Wunder im Altersheim

Meine Mutter zerfällt langsam. Sie sitzt in ihrem Rollstuhl am Tisch und starrt aus dem Fenster. Sie rollt sich mit den Füßen immer leicht vor und zurück. Hospitalismus. So ist es, wenn man nichts anderes tut als Tag für Tag nur dazusitzen. Keine Reaktion als ich komme. Sie erkennt mich noch, reagiert aber nicht. Sie starrt weiter aus dem Fenster. Ich frage sie wie es ihr geht. Sie sagt: "gut", aber ihre Mundwinkel sind heruntergezogen. Sie konzentriert sich auf ihr Kraftchakra, um das Leid ihres Lebens nicht zu spüren.

Ihre junge Bettnachbarin, die sie immer so liebevoll umsorgt hat, ist nicht mehr da. Sie hat ein Einzelzimmer bekommen. Auf ihrem Stuhl sitzt jetzt eine alte Frau, die neue Bettnachbarin. Ich unterhalte mich etwas mit ihr. Sie ist auch schon ziemlich dement, aber sie kann noch denken und fühlen. Sie leidet schwer. Sie wohnte in ihrem Haus in einem Dorf weit weg. Ihre Kinder haben sie in dieses Heim gebracht, weil sie in der Nähe wohnen. Aber sie besuchen sie nur selten, weil sie keine Zeit haben. Die alte Frau hat alle ihre Nachbarn verloren. Sie ist sehr einsam. Sie kann auch nicht telefonieren, weil sie fast erblindet ist. Mit meiner Mutter ist ihr eine Kommunikation nicht möglich.

Ein großes Holzkreuz mit einer Jesusfigur darauf hängt über ihrem Bett. Die alte Frau ist Katholikin. Sie betet morgens und abends. Aber an das Paradies nach dem Tod glaubt sie nicht wirklich. Das gibt ihr keine Hoffnung. Sie lebt ohne Hoffnung und fühlt sich fremd und orientierungslos in ihrer neuen Umgebung. Ich muntere sie auf und erkläre ihr, dass ich sie jetzt jede Woche mitbesuche.

Ich schiebe meine Mutter eine Runde nach draußen in den Park. Genau in diesem Moment lockern die Wolken am Himmel auf und es scheint die Sonne. Wir genießen die Sonne, bis sie wieder verschwindet. Dann bringe ich meine Mutter zu unserem Singplatz. Dort warten schon meine alten Freunde und freuen sich, dass ich wieder da bin. Das Harmonium entfaltet seine Musik. Die Energie verbessert sich und es entsteht gute Laune. Auch meine Mutter wacht langsam auf. Am Anfang erinnert sie sich kaum an die Lieder, aber nach einiger Zeit kommt ihr Gehirn wieder in Gang.

Wir singen "Gottes Liebe ist so wunderbar" und kommen zu der Strophe "Gottes Hilfe ist so wunderbar". Ich halte kurz inne und frage die alten Frauen, ob sie an Gottes Hilfe glauben. Alle rufen sofort ja. Aber als ich sie frage wie Gottes Hilfe denn konkret aussieht, wissen sie es nicht. Eine alte Frau meint frech zu mir: "Du wirst es uns gleich sagen."

Das ist er wieder, der Hilfspriester in mir. Ich erkläre, dass Gott durch andere Menschen und direkt durch Energien wirken kann. Gott wirkt zum Beispiel durch die Altenpfleger, die sich liebevoll um die alten Menschen kümmern. Und er sendet den Menschen, die zu ihm beten, Kraft, Frieden, Liebe und Licht. Wir stellen uns Gott als Wolke aus erleuchtetem Bewusstsein am Himmel vor. Ein Lichtstrahl kommt herab und gibt uns Kraft in schwierigen Situationen.

Ich berichte wie ich Gottes Hilfe erfahren habe. Gott schützt mich nicht vollständig vor Leid. Aber er hilft mir hindurchzugehen. Plötzlich habe ich wieder Kraft. Plötzlich entfaltet sich inneres Glück und ich vergesse mein Leid. Plötzlich geschieht ein Wunder und das Leid ist weg. Einmal hatte ich zwei Wochen lang starke Zahnschmerzen. Eine Zahnwurzel war entzündet. Der Arzt sagte, dass der Zahn entfernt werden muss. Und plötzlich heilte der Zahn. Innerhalb einer Stunde verschwand die Entzündung, die Schmerzen waren weg und die dicke Backe war nicht mehr zu sehen.

Ich hoffe, dass Gott auch meine Mutter sieht. Ich bete für sie. Ich übergebe sie Gott und lasse sie und ihr Leid los. Ich vertraue darauf, dass auch für sie gut gesorgt wird. Aber beim Abschied bin ich etwas traurig. Ich lasse meine Trauer zu. Ich verdränge sie nicht. Gleichzeitig besinne ich mich auf meinen spirituellen Weg und denke das Mantra: "Om Sat-Chid-Ananda-Buddha. Om In-der-Ruhe-leben-Buddha. Om In-der-Einheit-leben-Buddha. Om In-der Liebe-leben Buddha." Dadurch geht es mir nach kurzer Zeit wieder gut, obwohl immer noch etwas Trauer in mir ist. Auch das Leid und die Trauer gehören zum Einheitsbewusstsein dazu. Aber das Glück überwiegt.

Sat-Chid-Ananda ist der Kernweg des Yoga. Wir haften an nichts an und lehnen nichts ab. So gelangen wir zum inneren Frieden und ins Sein. Wir verbinden uns mit der Einheit der Natur und überlassen uns dem Fluß des Lebens. Aus der inneren Entspannung und dem Einheitsbewusstsein entsteht dann Ananda, inneres Glück, Erleuchtung. Wir erheben uns über alles Leid, leben im Licht und können allen Wesen Liebe geben. Dadurch verstärkt sich unser Glück. Das Ego zerstört das Glück, aber die umfassende Liebe vergrößert es. Das ist das größte Wunder, was es auf der Welt gibt.

https://www.youtube.com/watch?v=SZGW_Z9L6gw (Mantra Song für inneren Frieden)
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Kommentare

  • Nils - Du darfst nicht vergessen, das wir Menschen eine Evolution & Involution haben, das bedeutet wir müssen wieder nach Innen gehen, und das machen wir wenn die Zeit im Alter gekommen ist, außer Du wahrst ein fleißiger meditierender.... dann ist dem von selbst Rechnung getragen. Sorge dich nicht, auch wenn die Mundwinkel nicht Freude zeigen.
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