Quellenverweis:
Dieser Artikel ist in einer etwas gekürzten Fassung in YOGA AKTUELL Nr. 103 April / Mai 2017 erschienen.

Der traditionelle Hathayoga, aus dem die ständig wachsende Vielfalt der modernen Yogastile hervorgegangen ist, stellt bereits in seiner ursprünglichen indischen Variante eine Verschmelzung yogischer und tantrischer Praktiken und Vorstellungen dar. Was heißt aber „yogisch“, und was „tantrisch“? Bedeutet yogisch Disziplin und Entsagung, und tantrisch Zügellosigkeit und Sinnenfreude? Muss ein Yogi oder eine Yogini Enthaltsamkeit üben, wogegen ein Tantriker seine Sexualität ausleben darf? Wie unterscheidet sich eine yogische von einer tantrischen Meditationspraxis, und wie kann eine solche in den Alltag integriert werden?

Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, wollen wir einen kurzen Blick auf die historische Entwicklung des Hathayoga und seine ursprüngliche Zielstellung werfen. Die ältesten erhaltenen Texte dieser ehemals mündlich vom Lehrer auf den Schüler weitergegebenen Tradition gehen etwa auf das 8. bis 10. nachchristliche Jahrhundert zurück, so das Gorakṣa-śataka des Gorakṣa Nātha. Im wesentlichen haben drei Hauptquellen die Übungspraxis des Hathayoga und das ihr zugrundliegende philosophische Weltbild gespeist: Das Yoga-sūtra (YS) des Patañjali (ca. 2. Jh. n. Chr.), die tantrischen Traditionen, die sich hauptsächlich im 2. bis 8. Jahrhundert herausgebildet haben, und schließlich die Philosophie des Advaita Vedānta in der Interpretation des Śaṅkara (8./9. Jh. n. Chr.).

Hierbei geht die Praxis der Atemkontrolle (prāṇāyāma) und der meditativen Versenkung (samādhi) auf den im Yoga-sūtra gelehrten achtgliedrigen Pfad zurück. Die Techniken zur Erweckung der kuṇḍalinī genannten mystischen „Schlangenkraft“ wurden von Tantrikern entwickelt, ebenso das Wissen um das damit in Verbindung stehende feinstoffliche Energiesystem mit seinen Kanälen (nāḍī) und Wirbeln (cakra). Insbesondere zwei Verse der Haṭha-yoga-pradīpikā (HYP), in denen eine Technik für Paare namens sahajolī gelehrt wird, bezeugen den starken tantrischen Einfluss im ursprünglichen Hathayoga (vgl. HYP 3.93 – 94). Die Lehre von der Einheit von Individualseele (jīvātman) und Allseele (paramātman) und dem als brahman bezeichneten absoluten Urgrund aller Dinge wurde aus dem Advaita Vedānta übernommen.

Auch wenn der Hathayoga heute vor allem für die Praxis der āsanas (wörtlich: „Sitz, das Sitzen“) bekannt ist, stellt diese nur die Voraussetzung für sämtliche auf ihr aufbauenden Praktiken des prāṇāyāma, der bandhas und mudrās dar. Diese sind Gegenstand der ersten drei Kapitel der Haṭha-yoga-pradīpikā. Ihr Autor Svātmarāma (14. Jh. n. Chr.) betont an mehreren Stellen, dass die genannten Techniken zur Vorbereitung auf die im vierten Kapitel behandelte Meditationspraxis des rāja-yoga dienen: „Ich bin der Meinung, dass diejenigen, die den Zustand der meditativen Versenkung (rāja-yoga) nicht kennen und lediglich Hathayoga praktizieren, die Früchte ihrer Bemühungen verfehlen“ (HYP 4.79).

Hier bezieht sich der Begriff rāja-yoga („königlicher Yoga“) auf den höchsten Bewusstseinszustand (samādhi) und nicht auf das System des Yoga-sūtra (vgl. HYP 4.3 – 4). Dieser Bewusstseinszustand tritt spontan ein, sobald der Geist bzw. das Denken (manas, citta) vollständig zum Stillstand gekommen ist, was mit einem ebenso spontan erfolgendem „Auflösen“ (laya) des Atems einhergeht (vgl. HYP 2.2). Es ist dieses völlige Zurruhekommen des Denkens und Atmens, das die Voraussetzung für die in der Meditation erfahrbare, jedoch nicht „bewirkte“ Einheit von individuellem und universellem Selbst darstellt. In diesem Zustand endet die Unwissenheit (avidyā) bezüglich der Beschaffenheit unserer wahren Natur, was nach indischer Vorstellung das Lösen aller karmischen Verstrickungen und endgültige Beenden der fortwährenden Wiederkehr im Rad des Daseinswandels (saṃsāra) zur Folge hat. Svātmarāma nennt diese letzte Befreiung mukti (vgl. HYP 4.78).

Kehren wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: Was bedeutet „yogisch“, und was „tantrisch“? Zunächst bestehen die Unterschiede in der Art der praktizierten (bzw. als untauglich verworfenen) Methoden und dem philosophischen Weltbild oder „Erklärungsmodell“, in welches diese eingebettet sind. Unter den Meditationstechniken lassen sich zwei Grundtypen unterscheiden, die zwar zum selben Ziel führen, aber in entgegengesetzter Richtung vorgehen: Der erste Typ basiert auf dem pratyāhāra genannten „Rückzug der Sinne“ von den äußeren Objekten und der ausschließlichen Ausrichtung der Aufmerksamkeit (dhāraṇā) auf ein innerliches Meditationsobjekt. Im achtgliedrigen Yoga des Patañjali schließen sich hieran die Phasen von Meditation (dhyāna) und Versenkung (samādhi) an (vgl. YS 2.29). Ich möchte diese Art der Meditationspraxis als spezifisch „yogisch“ bezeichnen, obgleich sie auch in den tantrischen Traditionen verbreitet ist.

Es gibt darüber hinaus eine Reihe von Methoden eines anderen Typs, die nicht auf dem Rückzug der Sinne von der Außenwelt beruhen, sondern im Gegenteil die wachen Sinne als Tore zum Eintritt in einen „leeren“ Raum reinen Bewusstseins jenseits der Dualität von Subjekt und Objekt nutzen. Diese bezeichne ich als spezifisch „tantrisch“. Eine Fülle solcher Techniken sind im Vijñāna Bhairava Tantra überliefert, einem aus der kaschmirischen Tradition des Trika hervorgegangenen Text (ca. 6.-8. Jh.). Hierzu gehören neben einigen auf der sexuellen Vereinigung basierenden Praktiken auch solche, die spontan in Alltagssituationen zur Anwendung kommen können: Ganz alltägliche Gefühle und Körperempfindungen wie Freude und Schmerz, Angst und Zorn, Hunger und Durst – selbst das Niesen – werden als geeignete Gegenstände der Meditation empfohlen. Ein tāntrika schließt so viele Lebensbereiche wie möglich ein, um sich auf den Zustand des nicht-denkenden Wahrnehmens und somit auf das Unbekannte einzulassen.

Sämtliche Meditationstechniken beider Grundtypen beinhalten zunächst ein bewusstes Tun im Sinne einer Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf ein inneres oder äußeres Meditationsobjekt. Im Verlaufe der Meditation verschiebt sich der Fokus jedoch auf ein Nicht-Tun, insofern man sich mehr und mehr dem inneren Prozess überlässt, bis schließlich eine Verschmelzung des Wahrnehmenden mit dem Meditationsobjekt bzw. eine Auflösung der Subjekt-Objekt-Spaltung erfolgt. Anders ausgedrückt verschwindet die letztlich auf Denkprozessen (citta-vṛtti) basierende Unterscheidung zwischen dem Wahrnehmenden (jñātṛ), dem Vorgang des Wahrnehmens (jñāna) und dem Wahrzunehmenden (jñeya).

Entscheidend ist hierbei der Übergang vom Tun zum Nicht-Tun, ein vollständiges Loslassen jeglichen Wollens und Nicht-Wollens. Dies zieht eine vorübergehende Auflösung der vertrauten Egostrukturen nach sich, was massive Angst auslösen kann. Weicht man der Angst nicht aus, kommt es häufig zu einem subjektiv empfundenen Prozess eines innerlichen Fallens, Sinkens oder Schwebens, dem man sich ebenfalls ganz überlassen muss. Dann ist da niemand mehr, der meditiert – also etwas „tut“ – und es bleibt eine sich immer weiter vertiefende und sich ausdehnende Stille übrig, in der sich der vom ichhaften Denken befreite Praktizierende zugleich als leer und erfüllt erfährt (vgl. HYP 4.56.)

Kann man dieses Nicht-Tun „üben“, das für die Erfahrung der vollkommenen inneren Stille, die bis in unsere Wahrnehmung des Äußeren hineinwirkt, so bedeutsam ist? In der Yogapraxis steht in der Regel das Tun im Vordergrund, was schon aus dem Sprachgebrauch deutlich wird: Wir „machen“ Yoga, „gehen“ in ein āsana hinein, „führen“ prāṇāyāma aus, „setzen“ bandhas und „erwecken“ die kuṇḍalinī. Es ist von der „Kontrolle“ des Atems und der Gedanken und der „Lenkung“ des prāṇa die Rede. Dies ist der Yang-Aspekt spiritueller Praxis, der in der traditionell-indischen wie modern-westlichen Hathayogapraxis zweifellos stark ausgeprägt und damit durchaus „yogisch“ ist. Die weniger beachtete „tantrische“ Herangehensweise ist eher der des Taoismus verwandt: Hier steht die Qualität des Yin im Vordergund, also das Geschehenlassen, sich Hingeben, Nicht-Tun. In der Übungspraxis des Yin-Yoga wird dieses Element wieder stärker betont.

Wie lässt sich mehr Geschehenlassen, also Nicht-Tun, in die Yogapraxis und unseren Alltag integrieren? Da bietet sich besonders der Atem an: Neben der aktiven, hauptsächlich yang-orientierten Pranayamapraxis kann auch dem Erspüren des natürlichen Atems immer wieder Raum gegeben werden. Es ist für viele Menschen eine regelrechte Herausforderung, den Atem fließen zu lassen, ohne ihn bewusst oder unbewusst zu beeinflussen. Auch zur Mantrapraxis gibt es eine yin-orientierte Variante, die jederzeit und überall zur Verfügung steht: das Lauschen auf Klänge und Geräusche unserer Umgebung und sich darin absorbieren Lassen. Eine weitere hilfreiche Übung im Nicht-Tun ist es, Momente der Unsicherheit, des Nichtwissens oder vermeintlichen Kontrollverlusts zuzulassen und bewusst zu erleben, ohne sofort innerlich dagegen anzugehen oder sich davon äußerlich durch Beschäftigung abzulenken. So kann man entdecken, dass jegliche Unruhe in einem viel umfassenderen Raum von Stille und Weite auftaucht und darin auch wieder verschwindet.

Erinnern wir uns, dass die Polarität von Yin und Yang bereits im Wort haṭha-yoga enthalten ist: Die Silbe ha steht traditionell für den „Sonnenkanal“, der das aktive, „männliche“ Prinzip symbolisiert und aus moderner Sicht mit dem Sympatikus in Verbindung steht. Die Silbe ṭha steht für den „Mondkanal“, das passive, „weibliche“ Prinzip und den Parasympatikus. Eine ausgewogene, die Meditation mit einschließende Hathayogapraxis, die sich allmählich vom Tun in Richtung Nicht-Tun und vom Wollen zum Geschehenlassen entwickelt, integriert ganz selbstverständlich yogische und tantrische Aspekte spiritueller Praxis.

Literaturtipp zum Vijñāna Bhairava Tantra: Das Buch der Geheimnisse: 112 Meditations-Techniken zur Entdeckung der inneren Wahrheit (Osho, arkana).

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