Meine Mutter hat Geburtstag

Meine Mutter ist 93 Jahre alt geworden. Als ich am Nachmittag zu Besuch kam, schlief sie. Die Alterpflegerin weckte sie auf und setzte sie in ihren Rollstuhl. Meine Mutter brauchte lange um wieder wach zu werden. Irgendwie war sie heute schlechter drauf als letzte Woche. Sie wurde gar nicht richtig wach. Sie begriff nicht wirklich, dass sie Geburtstag hatte.

Obwohl meine Schwester einen Kuchen mit 93 Kerzen in der Konditorei bestellt hatte. Auf dem Foto sieht man, wie viele Kerzen das sind. Und wie viele Jahre meine Mutter schon gelebt hat. Eine sehr große Anzahl von Jahren. Und jedes Jahr voller Abenteuer.

Die Geburt im Jahre 1924. Da gab es in Deutschland die Weimarer Republik. Nach den schwierigen Anfangsjahren mit Kriegsende und Bürgerkrieg brach jetzt eine kurze Zeit des Wohlstandes aus. Eine freie Kultur entfaltete sich. Die wilden 20iger Jahre begannen.

Nach kurzer Zeit war alles wieder vorbei. Die Weltwirtschaftskrise brachte vielen Menschen Armut und Hunger. Die Nazis kamen an die Macht. Meine Mutter trat dem Bund deutscher Mädels bei und lernte viele Wanderlieder. Die wir heute alle sangen. Bis auf die Nazilieder. Die hört man im Altersheim nicht gerne. Diese schreckliche Zeit mit der Judenverfolgung und dem zweiten Weltkrieg ist vorbei.

Nach dem Krieg lernte meine Mutter meinen Vater kennen. Und die Nils-Seele konnte sich inkarnieren. Zehn Jahre später kam dann noch meine Schwester hinzu. Und fertig war die Hornfamilie. Die gerne reiste, wanderte und Lieder sang. Auch heute sangen wir fast drei Stunden. Ich hatte meine Ukulele mitgebracht. Und so wurde es eine fröhliche Runde.

Meine Schwester hatte ihr großes Liederbuch dabei. Deshalb gab es heute viele Lieder, die sonst nicht in meinem Repertoire waren. Einige Senioren setzten sich hinzu. Und das war gut so. Die Hornfamilie ist der Weltmeister im Falschsingen. Zu fünft sangen wir mindestens zehnstimmig. Die Senioren konnten gut singen. Und so wurde der Gesang langsam melodischer.

Meine Mutter bereiste mit meinem Vater die ganze Welt. Sie waren überall. In Indien, China, Australien, Afrika und Amerika. Dann starb mein Vater vor 30 Jahren und meine Mutter lebte alleine in ihrem großen Haus. Zum Glück hatte sie viele Freudinnen mit denen sie jeden Tag telefonierte und die sie oft besuchten. Erst als auch ihre Freundinnen nach und nach starben, wurde es einsam um sie. Sie wurde dement und kam ins Altersheim, wo sie jetzt seit zwei Jahren lebt.

Meine Mutter hörte heute beim Singen hauptsächlich zu. Und aß dabei von dem Kuchen. Beim Kerzenauspusten gab es fast ein Drama. Wenn der Rauchmelder angegangen wäre, wäre automatisch die Feuerwehr gekommen und wir hätten den ganzen Löscheinsatz bezahlen müssen. Dann wäre es ein teurer Geburtstag geworden. Wir waren deshalb sehr vorsichtig, zündeten die Kerze kurz an und brachten den Kuchen dann schnell nach draußen, wo der Wind die Kerzen ausblies.

Das Leben geht schnell vorbei wie eine Kerze im Wind. Ich freute mich, als ich meine Mutter wenigstens einmal zum Lachen brachte. Und zwei Lieder sang sie auch mit. Insgesamt war es ein gelungener Geburtstag.

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Kommentare

  • Wunderbar.

  • Hallo Nils!
    Jedes mal lese ich deine Erlebnisse im Altersheim mit Freude u. Neugier.Es freut mich sehr,dass ihr so schön den 93.Geburtstag deiner Mutter gefeiert habt.Viele alte Leute sagen,sie können nicht mehr singen u. wollen es auch nicht mehr.Ich erinnere mich,wie ich 1 alte sterbende Frau mit dem Lied"Von guten Mächten wunderbar geborgen ..."auf der Krebsstation begleitet habe.

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