In einer alten Hindu-Schrift heißt es, dass Gott und ein Weiser namens Narada eines Tages durch eine gewaltige Wueste wandern.
Narada fragt Gott: "hoechster Herr", was ist das Geheimnis des Lebens und der Trugbilder dieser Welt?
Gott laechelt und schweigt. Sie marschieren weiter.
Mein Sohn, sagt Gott schliesslich, die Sonne scheint heute recht heiss und ich bin durstig. Vor uns befindet sich ein Dorf. Geh hin und hole mir einen Becher Wasser.
Narada macht sich auf den Weg. Er kommt in das Dorf und klopft an die Tuer des ersten Hauses. Eine wunderschoene Frau oeffnet die Tuer. In dem Augenblick, als Narada in ihre Augen blickt, vergisst er Gottes Befehl und den Grund, warum er in das Dorf gehen sollte. Die Frau bittet Narada in das Haus, wo er von ihrer Familie auf das herzlichste begruesst wird. Es ist, als ob jeder in diesem freundlichen Haushalt ihn bereits erwartet haette.
Narada wird eingeladen, mit der Familie zu speisen und die Nacht ueber zu bleiben. Er nimmt freudig an, geniesst die Gastfreundschaft der Familie und bewundert insgeheim die Schoenheit der jungen Frau.
Es vergeht eine Woche, dann zwei. Narada beschliesst zu bleiben, und schon bald uebernimmt er einen Teil der Haushaltspflichten.
Nach einem angemessenen Zeitraum bittet er um die Hand der jungen Frau. Die Familie hat nichts anderes erwartet. Alle sind hoechst erfreut. Narada und sein junges Weib bleiben im Haus der Familie, wo sie ihm schon bald drei Kinder gebaert, zwei Soehne und eine Tochter.
Jahre vergehen.
Die Eltern seiner Frau sterben. Narada wird zum Hausherrn. Er eroeffnet einen kleinen Laden im Dorf, der sehr gut laeuft. Schon bald ist er ein angesehener Buerger der Gemeinde und ein geachtetes Mitglied des Gemeinderats. Narada geht auf diese Weise in den uralten Freuden und Sorgen des Dorfes auf und lebt viele Jahre in Zufriedenheit.
Eines Abends mitten in der Regenzeit bricht ein gewaltiger Sturm aus, und der Fluss steigt durch die ploetzlichen Fluten so sehr an, dass er das Dorf ueberschwemmt.
Narada sammelt seine Familie um sich und fuehrt sie durch die dunkle Nacht auf eine Anhoehe. Aber der Wind blaest mit solcher Gewalt, und die Regenschauer sind so heftig, dass einer von Naradas Soehnen weggerissen wird. Narada will nach dem Jungen greifen und laesst dabei seinen anderen Sohn los. Kurz darauf reisst ihm eine starke Windboe seine Tochter aus den Armen, dann verschwindet auch noch sein geliebtes Weib im Tosen der donnernden Dunkelheit.
Narada jammert hilflos und richtet seine geballte Faust gegen den Himmel. Aber seine Schreie werden von haushohen Wellen, dem Rauschen der Fluten uebertoent, die aus den Tiefen der Nacht aufsteigt und ihn kopfueber ebenfalls in den Fluss stuerzt. Ihm wird schwarz vor Augen.
Viele Stunden, vielleicht Tage vergehen. Langsam und unter Schmerzen kommt Narada wieder zu sich. Er muss entdecken, dass er weit flussabwaerts auf einer Sandbank gestrandet ist, fast nackt und halbtot. Es ist ein helllichter Tag und der Sturm hat sich gelegt. Nirgends entdeckt er ein Lebenszeichen von seinen Angehoerigen oder anderen Lebewesen. Lange Zeit liegt Narada einfach nur auf dem Sand, fast verrueckt vor Kummer und Einsamkeit. Truemmer treiben auf dem Fluss an ihm vorueber, und der Wind traegt den Geruch des Todes mit sich. Alles wurde ihm genommen; alle lebensspendenden und kostbaren Dinge sind in den wirbelnden Fluten versunken. Es scheint, dass er nichts tun kann, ausser heftig zu weinen um den Schmerz zu begraben.
Ploetzlich hoert Narada hinter sich eine Stimme, die ihm das Blut in den Adern stocken laesst.
Mein Kind, wo ist mein Becher Wasser?
fragt die Stimme.
Narada dreht sich um und sieht Gott vor sich stehen. Der Fluss verschwindet, und er ist wieder mit Gott allein in der leeren Wueste.
Wo ist mein Wasser?,
fragt Gott erneut:
Ich warte jetzt schon mehrere Minuten.
Narada wirft sich verbluefft dem Herrn zu Fuessen und fleht um Vergebung.
Ich habe es vergessen!
ruft Narada immer wieder.
Ich habe vergessen, worum Ihr mich gebeten habt, grosser Herr! Vergebt mir!
Gott laechelt und sagt:
Verstehst du nun das Geheimnis hinter deinem Leben und den Trugbildern der Welt?
Die Rueckkehr zu uns Selbst, zu "Gott" dauert so lange, wie wir brauchen, um die Aufgaben zu vollenden, die uns fuer dieses Leben gegeben wurden, oder wir uns selbst auferlegten.
So gesehen ist die Rueckkehr erst dann vollendet, wenn jeder Augenblick unseres Lebens zu einem Zeugnis fuer das wird, was wir vergessen haben und woran wir uns wieder erinnern muessen – fuer unsere spirituelle Mission. Es ist eine unendliche Geschichte, deren Mitte ueberall in unserem Leben und deren Enden im Nirgendwo liegen.
Der Sinn hinter diesem Geheimnis kann nur erraten oder, besser noch, in Gleichnissen und Geschichten, wie dieser uralten Erzaehlung, ausgedrueckt werden.
om shanti om
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