Diese Geschichte las ich heute in meinem Retreat im Westerwald vor. - Gurdjieffs Vater starb, als sein Sohn erst neun Jahre alt war. Er rief ihn an sein Bett und sagte zu ihm: „Ich bin ein armer Mann, ich kann dir nichts vermachen, doch ich kann dir etwas mit auf deinen Lebensweg geben, etwas, was mir auch mein Vater mitgab. Du bist noch sehr jung und du wirst es jetzt noch nicht verstehen. Höre mir deshalb gut zu und merke es dir für später, wenn du größer sein wirst. Ich möchte, dass du mir ein Versprechen gibst. Wenn du jemandem begegnest, der etwas Negatives, etwas Beleidigendes zu dir sagt, höre ihm einfach nur zu, ohne darauf zu reagieren. Und sage ihm dann, ich werde dir morgen darauf antworten, lasse mir einen Tag Zeit. Ich habe es meinem Vater versprochen. Morgen erhältst du meine Antwort.“ Gurdjieff gab ihm dieses Versprechen und sein Vater schloss die Augen und starb. Es waren seine letzten Worte gewesen. „Ich hielt mich mein ganzes Leben lang an daran“, sagte Gurdjieff, „und ich lernte, niemand kann vierundzwanzig Stunden wütend auf jemand sein. Ich erkannte innerhalb dieser Zeitspanne, dass derjenige entweder Recht hatte mit dem, was er zu mir gesagt hatte – oder dass er Unrecht hatte. Weder im ersten noch im zweiten Fall gab es also einen Grund, wütend zu sein. Ich konnte in Ruhe zu ihm sagen, ich habe in mich reingeschaut und erkannt dass es stimmt, was du gesagt hast – oder aber, ich konnte das, was du über mich gesagt hast, nicht in mir finden, du hast dich geirrt. Mein Vater hatte mir das größte Geschenk gegeben, das ein Sohn von seinem Vater erhalten kann, er hatte mir den Weg in die Bewusstheit gezeigt und damit den Weg in die Freiheit. Ich wurde frei von mechanischem, unbedachtem Reagieren. Ich wurde unabhängig von den flatternden Gedanken und schwankenden Gefühlen in mir. Ich wurde klar und lernte in die Tiefe zu schauen. Ich erkannte mich selbst und damit zugleich alle anderen. Denn auf der tiefsten Ebenen bin ich nicht nur ich selbst, sondern auch alle anderen Wesen, die ganze Existenz.“

 

© 2018 Nacherzählung: Bhajan Noam

 

Seiten des Lebens: www.bhajan-noam.com

 

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