Heiligabend in der Kirche

Ich war noch nie in meinem Leben am Heiligen Abend in der Kirche. Meine Eltern waren Atheisten. Und so wurde ich atheistisch erzogen. Allerdings machte ich im Alter von neun Jahren einen Schritt auf das Christentum zu. In meinem Ort gab es eine schöne kleine Dorfkirche, fünf Minuten von meinem Elternhaus entfernt. Der evangelische Pfarrer suchte Engel für die Christmesse am Heiligen Abend. Also meldete ich mich als Engel an.

Alle Kinder sollten als kleine Engel verkleidet mit einer Kerze in der Hand zu Weihnachten in die Kirche marschieren und dabei ein Lied singen. Ich freute mich sehr darauf. Einige Wochen vor Weihnachten begannen wir mit dem Üben. Doch als der Pfarrer bemerkte, dass neben den schönen Tönen manchmal auch ein schiefer Ton meine zarte Kinderkehle verließ, konnte er das nicht ertragen. Ich durfte am Heiligen Abend nicht bei den Engeln mitsingen. Ich war sehr enttäuscht. Nie wieder betrat ich am Heiligen Abend eine Kirche.

So wurde aus mir statt einem kleinen Engel ein kleiner Teufel. Jedenfalls sieht Barbara das manchmal so. Deshalb zerrte sie mich dieses Jahr direkt am Heiligen Abend in die kleine schöne Kirche, die in unserer Nähe im Wald auf einem Hügel liegt. Die Kirche war bereits um 17.15 Uhr überfüllt. Wir bekamen gerade noch zwei Plätze.

Erwartungsfroh blickten fünfzehn Minuten später etwa tausend Augenpaare zur Orgel und freuten sich auf die schönen christlichen Gesänge. Doch dann geschah eine Katastrophe nach der anderen. Ich begann mich in der Kirche wohl zu fühlen. Das war die späte Rache Gottes an der evangelischen Kirche, die mich als Kind dereinst so brutal abgewiesen hatte.

Der Organist war sehr aufgeregt. Erst fand er nicht den richtigen Takt und dann versemmelte er einen Ton nach dem anderen. Und als ob es damit noch nicht genug gewesen wäre. Beim nächsten Lied gab es eine ältere Vorsängerin. Und auch sie sang so schräg, dass Barbara verzweifelt die Hände vor das Gesicht presste, damit sie nicht lauthals loslachen musste.

Und dann kam die Predigt des Pfarrers. Der Höhepunkt des Abends. Ein älterer, hagerer, großgewachsener Mann in einem schwarzen Talar erschien auf der Kanzel. Auf mich wirkte er wie ein Bücherwurm, der in seiner eigenen Welt aus Büchern lebte. Die Menschen um sich herum sah er nicht. Er redete völlig an ihren Wünschen und Bedürfnissen vorbei.

Als Thema seiner Predigt hatte er sich die Gentechnik ausgesucht. Ein chinesischer Forscher hatte gerade zwei Embryonen gentechnisch verändert, um sie vor HIV zu schützen. Er hatte Gott gespielt. Ein schwieriges Thema am Heiligen Abend. Und wenn wir jetzt erwarten würden, dass der Pfarrer gentechnische Manipulationen am Menschen verurteilen würde, haben wir uns leider getäuscht. Der Pfarrer war voller Zweifel was richtig und was falsch war. Und ob es Gott überhaupt gibt.

Die Menschen in der Kirche erstarrten schon nach den ersten Worten des Pfarrers. Über so ein Thema wollten sie am Heiligen Abend nicht sprechen. Sie wünschten sich nur noch eins. Die Predigt sollte schnell zu Ende gehen. Leider dauerte sie ziemlich lange, weil der Pfarrer sich in seinen Gedanken über die Gentechnik verlor und kein Ende finden konnte.

Ich war zufrieden mit meinem ersten Heiligen Abend in der Kirche. Nächstes Jahr wollen wir das wiederholen. Ich bin gespannt, welches Thema sich der Pfarrer dann wählt. Ich möchte aber nicht nur lästern. Es war ein schönes Ritual. Der ständige Wechsel zwischen einem Lied und einem kurzen Vortrag erzeugte eine schöne Weihnachtsatmosphäre. Die Weihnachtsgeschichte wurde vorgelesen. Wir sangen "Stille Nacht. Heilige Nacht." Und zum Schluss erhoben sich alle von den harten Kirchenbänken und beteten gemeinsam das Vater unser. Dann bekam wir alle den Segen Gottes, vermittelt durch seinen unperfekten Stellvertreter in unserer kleinen Waldkirche.

Später schaute ich mir im Fernsehen noch die evangelische Christmesse an. Hier lief alles perfekt ab. Ein perfekter Pfarrer holte die Menschen genau dort ab, wo sie waren. Bei ihren täglichen Problemen und ihren täglichen Freuden. Perfekte Sängerinnen sangen perfekte christliche Weihnachtslieder.

Ich schwankte hin und her, was ich lieber mochte. Das perfekte Weihnachtsfest im Fernsehen oder das Chaos in der Waldkirche. Letztlich gefiel mir beides. Beides gehört für mich zusammen und zeigt das Bild des Christentums in Deutschland. Was mir wirklich fehlte war der echte Glaube an Gott. Die Kirche müsste erst einmal klären, was für sie Gott in einer wissenschaftlich denkenden Zeit bedeutet.

Es gibt die Erleuchtung. Ein Erleuchteter lebt in Gott. Er spürt Gott als Licht, Frieden, Glück und Liebe in sich. Er strahlt das Licht der Heiligkeit aus. Das wünsche ich mir für die Zukunft der Kirche. Und dass die Menschen aller Religionen in Deutschland und in der Welt friedlich, tolerant und in Liebe zusammenleben.

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Kommentare

  • Auch ich war dieses Jahr mit einem nicht so perfekten Gottesdienst sehr glücklich. Statt bei uns in die große Kirche mit dem glanzvollen Weihnachtsgottesdienst zu gehen, ging ich mit einer Freundin in ihrem Stadtteil in eine ganz kleine Kirche. Die war noch nicht einmal voll, der Pfarrer ist wohl nicht so beliebt. Er war ziemlich zerstreut und verhaspelte sich oft. Seine Predigt war angenehm kurz, und stattdessen wurde ganz viel gesungen, ein schönes Weihnachtslied nach dem anderen! Die junge Organistin spielte flott und fröhlich und ein Posaunenchor gab dem Ganzen einen festlichen Rahmen. Und alle sangen aus vollem Herzen mit! Zum Schluss gingen wir vor die Kirche und sangen "oh du fröhliche“ mit dem Posaunenchor draußen. Das war ein Weihnachtsgottesdienst ganz nach meinem Geschmack!

  • Auch ich war an Weihnachten in der Kirche - in der Heiligen Nacht in der Christmette, an beiden Weihnachtsfeiertagen im Hochamt (für diejenigen, die das gar nicht kennen: so eine Art "Satsang auf katholisch").
    So perfekt wie im Frensehen war es bei uns nicht, aber auch nicht so chaotisch wie in der Waldkirche.
    Ich bin sicher nicht "erleuchtet", aber ich glaube an Gott, der in Jesus Mensch geworden ist. Und dass das mal ein echter Grund zum Feiern ist.

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