Erkenne dein Selbst und sei frei

Eine alte Menschheitsfrage ist die Frage: „Wer bin ich?“ Auf Griechisch: „Gnothi seauton?“ Und Swami Sivananda sagt in einem seiner Lieblingslieder: „Erkenne dein Selbst und sei frei. Frage, wer bin ich, erkenne dein Selbst und sei frei.“ Und im Yoga gehen wir dieser Frage auf verschiedene Weise nach. Wir können sagen, auf eine relative Weise und letztlich dann auf eine absolute Weise. Zunächst mal lernen wir uns im Yoga auf verschiedenste Weise kennen. Wenn man Asanas übt, dann lernt man seinen physischen Körper kennen, man lernt mehr Empfindungen dort kennen, man lernt, seinen physischen Körper zu spüren, man lernt, ihn zu akzeptieren, man lernt, dass der physische Körper seine eigene Intelligenz hat, man bekommt Zugang mehr zu dieser inneren Intelligenz. So wie es kaum jemanden gibt, der anfängt, regelmäßig Hatha Yoga zu üben und dabei seinen alten Lebensstil ganz beibehält.

Wenn wir Hatha Yoga üben, lernen wir den physischen Körper mehr kennen, wir lernen, man könnte sagen, uns selbst auf der physischen Ebene mehr kennen, hören die Stimme des physischen Körpers. Und es gibt heute ja eine ganze Reihe von Menschen, die ein gewisses gestörtes Verhältnis haben zu ihrem physischen Körper. Sie haben ein gewisses Bild, wie es sein sollte, sie haben ein gewisses Bild, wie andere den Körper sehen, sie haben ein bestimmtes Bild, wie sie selbst den Körper sehen. Und aus diesen drei verschiedenen Dingen gibt es dann ein großes Spannungsverhältnis. Wenn man Yoga übt, insbesondere Hatha Yoga übt, insbesondere Asanas übt, lernt man seinen Körper etwas mehr kennen, letztlich man lernt ihn schätzen und weiß, da ist eine ganze Menge auch von Intelligenz dahinter.

Wenn wir Pranayama üben, lernen wir einen anderen Aspekt kennen, wir lernen den Pranaaspekt in uns kennen, der für viele Menschen vorher etwas unbekannt ist. Diese ganze Welt von Nadis, Energiekanälen, Chakras, Energiezentren, Prana, Energie, ist für die meisten Menschen erst mal verborgen. Wir lernen diese kennen. Natürlich, jeder Mensch hat irgendwo das Gefühl: „Ich habe mehr Energie und ich habe weniger Energie.“ Aber bei vielen Menschen beschränkt es sich darauf. Wenn man regelmäßig Pranayama übt, kann es sein, dass man die Chakras genauer spürt. Da kann man merken, hier ist etwas mehr Energie oder dort oder hier ist eine Energieblockade und hier könnte ich es ändern. Wir lernen diese ganzen energetischen Aspekt von uns kennen und wir lernen ihn schätzen und wir können damit umgehen. Wenn wir weitergehen, wenn wir meditieren. Ich werde jetzt nicht durch alle Yogapraktiken hindurchgehen, sonst würde der Vortrag etwas lange dauern.

Wenn wir meditieren, lernen wir andere Aspekte kennen. Wir lernen die Gedanken kennen, wir lernen die Persönlichkeit kennen, wir lernen die Emotionen kennen, all das lernen wir kennen. Und wir lernen, es auch zuzulassen. Auch hier, im Alltag haben Menschen bestimmte Weisen, auch mit ihren Emotionen, Gedanken, Gefühlen usw. umzugehen. Entweder sie sind – man kann sagen – Reizreaktionsautomatismen, also, irgendein Impuls kommt und sie wollen ihn sofort umsetzen und wenn es nicht geht, dann sind sie entweder mit sich selbst oder anderen unzufrieden. Oder Menschen haben auch wieder Vorstellungen, wie sie zu sein hätten und dummerweise sind sie nicht so. Und dann schimpfen sie mit sich selbst. Das ist gar nicht so selten, dass Menschen mit sich selbst eine Sprache im inneren Dialog pflegen, die sie unter keinen Umständen mit irgendjemand anderes pflegen würden. Das ist jetzt nicht zuträglich der Selbsterkenntnis und letztlich auch der Selbstwertschätzung. In der Meditation lernen wir, zu beobachten, was da ist. Man lernt die Gedanken kennen, man lernt die Emotionen kennen, man lernt die Persönlichkeit kennen. Und man lernt auch im Alltag, das Selbst mehr beobachten zu können. Vielleicht lernt man, über sich selbst ein bisschen mehr lächeln zu können. Das ist ein wichtiges Charakteristikum von menschlicher Reife, über sich selbst ab und zu mal lachen zu können. Wir lernen uns selbst kennen, wir lernen uns selbst vielleicht schätzen, im Sinne von Persönlichkeit, Emotionen, Talenten und Fähigkeiten, und haben vielleicht auch den Mut, das zu leben, was tatsächlich angelegt ist. Wir lernen nämlich, schließlich zu einem nächsten Aspekt zu kommen, und wir lernen eben in der Meditation, insbesondere auch in der tieferen Meditation, letztlich: „Ich bin gar nicht der physische Körper. Der physische Körper, den kann ich beobachten, mit ihm tue ich einiges Tolles im Alltag, mit ihm mache ich Erfahrungen, schöne wie auch nicht so schöne.“

Vor allem im Hatha Yoga ist es nicht für alle dauerhaft so, dass der Körper schmerzfrei wird. Wir lernen den Körper kennen und wir lernen, mit ihm zu arbeiten. Wir lernen unser Prana kennen, aber wir lernen auch: „Ich bin nicht das Prana.“ Wir lernen unsere Emotionen kennen und wir lernen, dass da auch eine Intelligenz dahinter steckt. Wir lernen auch, nicht von den Emotionen vollständig abhängig zu sein. Wir erkennen: „Ich bin auch nicht die Emotionen. Ich bin auch nicht die Persönlichkeit, obgleich ich diese Persönlichkeit besser kennenlerne durch das Yoga. Ich bin auch nicht die Fähigkeiten und die Talente.“ Obgleich, wer Yoga übt, wird fast notgedrungen feststellen, dass er Zugang findet zu Talenten und Fähigkeiten, die er vorher entweder gar nicht gekannt hat oder nie den Mut hatte, sie zu leben. Yoga gibt einem ja auch das Prana und den Mut und die Kraft, es zu leben. Aber wir sind noch etwas Tieferes als all das.

Letztlich sagt Vedanta: „Du bist Satchidananda. Du bist unendliches Sein. Du bist unendliche Bewusstheit. Du bist unendliche Seligkeit.“ Und das können wir Schritt für Schritt mehr erfahren. Es gibt manchmal Meditationen, wo wir irgendwo spüren: „Ja, da ist etwas. Und da ist etwas Unendliches, da ist etwas Großartigen, da ist etwas Unglaubliches. Da ist etwas, was irgendwo eine höhere Wirklichkeit ist. Und diese Wirklichkeit ist meine wahre Natur.“ Manchmal erscheint es so wie kleine Momente. Es kann auch im Alltag passieren, es kann in der Natur passieren, es kann im Zusammensein mit einem Menschen sein. Es kann in der Meditation geschehen, es kann in einer Asana sein, es kann während dem Mantrasingen sein. Aber immer wieder diese Momente gibt es und diese Momente sind besonders wertvoll. Und irgendwann führen diese kleinen Momente im Zusammenhang mit einer Analyse, „was sagen uns diese Momente“, zu einer Erfahrung, wo wir wirklich wissen: „Wer bin ich.“ Wir erkennen unser Selbst und sind frei.


Hari Om Tat Sat

 

 

 

Unbearbeitete Niederschrift eines Kurz-Vortrags mit Sukadev Bretz. Gehalten im Rahmen eines Satsangs nach der Meditation bei Yoga Vidya Bad Meinberg. Mehr Infos:

 

 

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