Ein perfekter Tag

Ich wachte auf. Die Sonne schien. Schnell aufgestanden, Katzenwäsche und Frühsport. Dann schnell die Welt im Internet gerettet und auf zu meiner Mutter. Die schlief, also konnte ich mich erstmal in Ruhe von der langen Fahrradfahrt bei einer Tasse Kaffee und zwei Stücken Torte im Altersheim-Cafe erholen.

Frau Trotzki liegt immer noch im Krankenhaus. Man weiß nicht, ob sie jetzt stirbt oder eines Tages wieder auftaucht. Mir fehlte also eine nette Unterhaltung am Tisch. Da kam sofort Ersatz in Form von Ursula, 93. Ursula ist zwar schon ziemlich alt, aber geistig noch relativ fit. Man kann sich gut mit ihr unterhalten. Sie war Lehrerin. Ansonsten hat sie vergessen, was sie in ihrem Leben gemacht hat. Aber das macht nichts. So kann ich von meinem Leben erzählen.

Mein ganzer Werdegang. Rechtsanwalt, Psychotherapeut, dann viele Jahre Yogalehrer, berühmter Schriftsteller (ein Scherz) und jetzt Heiliger (auch ein Scherz). An letzterem arbeite ich noch. Aber ich folge meinem buddhistischen Vorbild Longchenpa, einem Heiligen aus dem 12. Jahrhundert. Er beschrieb sein perfektes Leben mit den Worten: "Erst als Yogi schnell zur Erleuchtung, dann als spiritueller Meister seine Mitmenschen glücklich machen, und zum Schluss ins Paradies aufsteigen."

Bei mir geht es nicht so schnell mit der Erleuchtung. Es gibt viel zu reinigen. Also bewältige ich alle drei Etappen auf einmal. Ich lebe als Yoga, bin gleichzeitig ein großer Guru (ein Scherz) und verwirkliche das Paradiesbewusstsein, Tatsächlich entwickeln sich in mir in letzter Zeit immer mehr Phasen der Glückseligkeit. Ich lebe im ruhigen Sein, Einheitsbewusstsein und innerem Glück. Die Glücksenergie fließt spontan, unerwartet, aber doch relativ regelmäßig.

Obwohl ich in einer Leidwelt lebe - vielen meiner Freundinnen geht es schlecht und im Altersheim tobt die Hölle - entfaltet sich durch das innere Glück eine Paradiessicht der Welt. Ich nehme meine Welt als Paradies wahr. Auch das Leid kann ich irgendwie positiv sehen, zumindest als Weg des spirituellen Wachstums und der Zerstörung der Illusion des dauerhaften Glücks im äußeren Leben.

Als ich meinen Kaffee ausgetrunke habe, schaue ich nach meiner Mutter. Sie ist inzwischen aufgewacht, sitzt in ihrem Rollstuhl am Tisch und trinkt aus ihrer Schnabeltasse. Perfekt. Ich begrüße sie und schiebe sie in ihrem Rollstuhl zu unserem Singplatz. Dort wartet schon meine Fan-Gemeinde auf mich. Nils, der Held. Perfekt. Ich zücke meine Ukulele und bringe die alten Damen mit meinem Gesang zum Entzücken.

Da ich nächste Woche Geburtstag habe, üben wir schon mal mein Geburtstagslied. "Lasst uns heute feiern, von Hamburg bis nach Bayern. Lasst uns heute singen, dass die Herzen klingen. Holladriho." Die Stimmung steigt bis zum Siedepunkt, als wir gemeinsam gröhlen "Froh zu sein bedarf es wenig". Natürlich darf auch "Mein Hut, der hat drei Ecken" nicht fehlen. Nacheinander besingen wir die Teilnehmer der Runde: "Nils, der hat drei Ecken. Ella (meine Mutter), Ursula (meine neue alte Freundin), Helga (die Akkordionspielerin), Gisela und die Namenlose." Die Namenlose hat ihren Namen vergessen. Also singen wir "Die Namenlose hat drei Ecken". Das singt sie fröhlich mit.

Und Gisela lacht wieder so laut und herzhaft. Sie ist etwas dement und etwas verrückt. Sie weiß nicht warum sie im Altersheim ist, aber sie lacht gerne ohne Grund. Obwohl sie bei mir schon einen Grund hat. Ich bin auch etwas verrückt, getreu dem Motto eines berühmten holländischen Philosophen: "Etwas verrückt lebt es sich besser."

Als ich nach zwei Stunden meine Energie verausgabt habe und völlig erschöpft bin, schiebe ich meine Mutter zurück in ihr Zimmer zu ihrer Schnabeltasse und radele nach Hause. Dabei denke ich über den Sinn des Lebens nach. Im Altersheim geht es eigentlich immer nur um Leben und Tod. Jeder möchte das Leben noch etwas genießen. Gleichzeitig wird ständig gelitten und gestorben. Beides macht das Leben auf der Erde aus. Aber ich kenne noch eine dritte Ebene, das Leben in der inneren Glückseligkeit. Das ist das wahre Leben. Also visualisiere ich mich als Buddha, lasse die Leidenergien des Altersheimes hinter mit und erhebe mich wieder in die Dimension des Lichts. Und kaufe im Supermarkt viele schöne Dinge für meine Geburtstagsparty ein. Mein Schwester kommt mit ihrem Sohn aus dem Schwarzwald angereist.

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